An einem Dienstag Vormittag, besuchten Joëlle Menzi (Kuratorin Kunsthalle Winterthur) und Anna Wiget (Künstlerin) gemeinsam die Einzelausstellung des albanischen Künstlers Anri Sala im Kunsthaus Bregenz. Das Gespräch über die Ausstellung wurde direkt im Anschluss in Mammern, bei Sonnenuntergang am Ufer des Bodensees aufgenommen und transkribiert.

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Anri Sala. All of a Tremble (Conducted Lines), 2021. Installationsansicht Erdgeschoss Kunsthaus Bregenz, 2021
Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist und Hauser & Wirth. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz

AW: Fangen wir räumlich chronologisch an. Den Einstieg in die Ausstellung fand ich etwas seltsam. Auf der einen Seite, diese zum akustischen Instrument modifizierte Tapetendruck-Walze, die an eine Spieldose erinnert, befestigt an einer freistehenden Betonwand All of a Tremble (Conducted Lines), 2021. Dann gegenüberliegend, die Illustrationen von Seeungeheuern oder Meerestieren, welche für die wissenschaftliche Darstellung in den Rahmen gepresst wurden Untitled Serie, 2018. Ich habe die zwei Werkgruppen erstmal nicht als Teil der Einzelausstellung wahrgenommen.

JM: Die Eingangssituation im KUB ist grundsätzlich etwas speziell für ein Museum, dadurch, dass die Kasse mit Postkarten und kleinem Shop im Ausstellungsraum platziert sind. Ich kenne kein anderes Museum, in dem die Räumlichkeiten so aufgeteilt sind. Allein dieser Umstand macht natürlich etwas mit dem Raum. Ein*e Betrachter*in muss sich dadurch vielleicht stärker entscheiden – jetzt beginnt für mich die Ausstellung und ich kehre den Arbeiten rundherum den Rücken zu.

…andererseits nimmt Anri Sala dem/der Betrachter*in gleich nachdem man die Treppe hinauf zum ersten Stock geht diese Entscheidung ab. Man begibt sich in ein vibrierendes Grollen der ersten Installation If and Only If, 2018. Eine Vorahnung macht sich bemerkbar, emotional antizipiert man schon, womit man gleich konfrontiert wird. Erstmal oben angekommen, die Schnecke. Einen Musiker hätte ich dabei aber nicht erwartet ...

Aber warte, nochmal zurück zum ersten Raum. Was hat es mit diesen enzyklopädischen Darstellungen der Meerestiere auf sich, mit diesen wissenschaftlichen Illustrationen?

Anri Sala. Untitled (maps/species). Installationsansicht Erdgeschoss Kunsthaus Bregenz, 2021
Foto: Markus Tretter. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz

Ja, das sind wissenschaftliche Illustrationen, Found Footage. In seinem Statement, beschreibt er sein Interesse daran, dass diese Fische, gegen ihre wahren anatomischen Eigenschaften, dem Bildformat entsprechend gekrümmt dargestellt wurden. Was man bspw. als eine Art Aal interpretiert, muss gar keiner sein, denn er wurde gekrümmt, damit im Bild sein ganzer Körper Platz hat.

Also er hat auch die wissenschaftlichen Illustrationen selbst gemalt?

Nein, wie ich es verstanden habe, ist das eine bestehende Art der Darstellung, in der man zugunsten des Bildformats  von einer naturgetreuen Darstellung der Spezies abweicht, vielleicht um die maximale körperliche Oberfläche in maximaler Größe darstellen zu können.

Und dieses Verfahren greift er dann in den abstrakt gemalten Figuren der jeweiligen Bildpaare auf?

...er greift es darin auf, ja, aber die ganze Begründung dahinter finde ich etwas weit hergeholt. Er spricht von der formalen Verwandtschaft.

Er versucht wohl eine formale Analogie zwischen der Krümmung der Fische und kartografischen Darstellungen herzustellen.

Das sah ich jetzt gar nicht darin. Der Verweis auf Landmassen, die sich auf Grund politischer Konflikte neu formen, kam bei mir auch aufgrund der Präsentationsform nicht an. Er hat, aus meiner Sicht, den Vergleich formal nicht stringent durchgezogen, auch die abweichende Formatwahl von Fisch zu Territorium verstehe ich in diesem Vergleich nicht. Die inhaltliche Erklärung dazu über den Titel oder ein Statement, ist meiner Meinung nach auch das einzige Problem der Ausstellung – eine Aufladung der Arbeiten mit konfliktbehafteten Inhalten - das funktioniert auch im zweiten Treppengang mit der schwarzen Schlagzeugtrommel H(a)unted in the Doldrums, 2021 nicht ganz. Sala’s Verknüpfung mit Menschen, die in Tansania auf Grund ihres Albinismus verfolgt werden ist nicht nachvollziehbar. Darum frage ich mich, ob sie legitim ist, da sie weder offensichtlich noch erahnbar ist. Ich weiss nicht, ob es bei ihm biografische Verbindungen zu so einer Sachlage gibt – im Kontext gerade dieser doch eher abstrakten Ausstellung habe ich Mühe mit einer solchen Arbeit.

Es handelt sich ausschließlich um ein Hintergrundwissen, das im Nachhinein hinzu kommt. Und macht es etwas mit der unmittelbaren Wahrnehmung des Werks, wenn über dieses Wissen verfügt? Nicht wirklich, nein.

...seine Arbeiten leben komplett für sich selbst, sie funktionieren unabhängig von einer sprachlichen Vermittlung, basierend auf einer individuellen Wahrnehmung.

Also losgelöst von ihrer Aufladung durch einen geschichtlichen Kontext...

Ja, das ist sehr bemerkenswert. Aber zurück zur Schnecke in If and Only If: Warum hast du keinen Musiker erwartet?

Ich sah zunächst nur den Bogen, der sich bewegt und ging intuitiv davon aus, dass der Fokus auf der Schnecke bestehen bliebe. Ich erwartete kein Zoom Out. Obwohl die Einstellgrösse mehr oder weniger durchgängig beim Close Up verbleibt, bringt für mich die zusätzliche Fokussierung auf Umraum, Gesicht und Mimik des Musiker eine dokumentarische Ebene mit hinein. Aber es wird dadurch auch eine Kommunikation zwischen der Schnecke und einer Person offensichtlich. Ich denke, darum geht es Sala doch letztendlich. Das ist auch akustisch wahrnehmbar, dass man das Verhalten der Schnecke mit demjenigen des Bratschist abgleicht. Dass in seinem Spiel eine Anpassung mit Rücksicht auf die Schnecke stattfindet. Die Person bekommt dadurch eine grosse Aufmerksamkeit. Man fragt sich sofort wer das sein könnte.

Dir ging es gleich? Wir haben uns beide gefragt, ob es sich um den Künstler selbst handelte, da wir ihn ja vorher nicht kannten. Aber deine Frage bezüglich der Oberfläche finde ich immer noch die Beste!

Also die Frage, ob die Schnecke überhaupt etwas hört?!

Anri Sala. If and Only If, 2018. Installationsansicht 1. Obergeschoss Kunsthaus Bregenz, 2021
Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist, Galerie Chantal Crousel, Paris, und Marian Goodman Gallery. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Brege

Ja, genau! (beide lachen) In diesem Moment habe ich mir sofort die Haut der Schnecke vorgestellt und wie sie mit der Schwingung der Violine vibriert. Gleichzeitig denkt man dabei nach, über eine Bewusstseinszuschreibung, ein Anthropomorphismus.

Die Schnecke ist doch ein ganz fragiles Wesen.

Findest du? Das empfinde ich nicht so. Die Angst, dass sie runterfällt vom Bogen, die teile ich nicht.

Nein, es geht nicht um ein Fallen, sondern um ein Zerschneiden. Wenn die Schnecke unter die Bogenhaare käme - würde sie sofort zerschnitten.

Sowas stellst du dir vor?

Ja, die Schnecke hat den Kopf doch gesenkt und windet sich einmal fast um den Bogen,  möchte nach unten zu den Saiten – in dem Moment wird der Bratschist eingeblendet wie er die Augen schließt. Und da dachte ich, er ist in seinem Spiel und achtet nicht mehr auf das Tier.

Denkst du, diese Angst würde gleich oder ähnlich transportiert, wenn der Klang der Bratsche, statt drei-dimensional und abgeglichen mit dem Ausstellungsraum, einfach aus einer Richtung abgespielt würde?

Nun, der Ton hätte sicher nicht dieselbe Wirkungsdimension. Auf diese Weise wirkt er unglaublich monumental und imposant. Wir hatten da doch einen spannenden Gedanken?

Wir hatten darüber gesprochen, dass man sich durch die 3-Dimensionalität des Sounds, dadurch, dass man von ihm umgeben wird, eher mit der Schnecke als Subjekt identifiziert.

Diesen Gedanken finde ich gut, denn so kommt es zu einer Totalität, die den Körper als Resonanzkörper ins Zentrum stellt. Der Körper der Schnecke zieht sich zusammen und dehnt sich wieder aus...

Eine Parallele, zu dem, was man im Raum oberhalb wiederfindet.

Die Oberfläche, die Haut und die Fühler der Schnecke, geben doch eine sehr starke Empfindsamkeit wieder, die Fühler, die sofort reagieren.

Im Raum vor der Filmprojektion ist Teppich ausgelegt — als wir da so saßen, habe ich mich gefragt, ob er ausgelegt wurde, um einen Abstand zu schaffen zwischen der Projektion und uns Besucherinnen.

Ich dachte, die Verwendung des Teppichs basiere ausschliesslich auf einer akustischen Entscheidung. Die Akustik dieses Ausstellungsraums unterscheidet sich dadurch von den anderen. Ich meine, der Ton in diesem Raum sei insgesamt weniger hart, weniger „scheppernd“. Den Teppich habe ich also rein akustisch gelesen. Gut, wir haben dann noch über den olfaktorischen Aspekt gesprochen. Die Geruchsunterscheidung.

Das „miefige“ eines Musikzimmers...

Auf jeden Fall herrscht im Vergleich zur Arbeit Time No Longer, 2021 im dritten Stock ein anderer Umgang mit dem Boden. Dort spielt die Spiegelung auf dem Boden eine wichtige Rolle.

Sie ist sogar fast gleichwertig mit der eigentlichen Projektionsfläche. Der Raum ähnelt einem Platz wie dem, an dem wir hier sitzen, einem Platz am Wasser. Der reale Raum wird durch die Spiegelung auf der Wasseroberfläche mit eine Verzerrung wiedergegeben.

Dadurch, dass Anri Sala die Architektur des Gebäudes in seine Arbeiten mit einbezieht, empfinde ich es als eine gute Entscheidung, vor If and Only If diesen Teppich zu setzen.

Bei Spiegelungen wie in Time No Longer frage ich mich oft, ob es sich dabei um reine Effekthascherei handelt, darum, Spektakuläres einzubauen durch die Erweiterung der Projektion in die dritte Dimension.

Das Filmbild mittels installativer Eingriffe im Ausstellungsraum fortzusetzen ist eine Strategie, welche von Gegenwartskünstler*innen oft gewählt wird - diesen Eindruck habe ich bei Sala nicht.

Nein, wenn er es macht, dann integriert er den Raum komplett in die Arbeit, so wie im zweiten Obergeschoss in Day Still Night Again, 2021. Das mag ich sehr, die Einfachheit dieser Arbeit. Sala fotografiert die baren Betonwände. Die Struktur des Holzes ist sichtbar, also die Gussform des Gebäudes, ein einfaches Produktionsmittel, dann die Risse, die Geschichte des Hauses...

...die vergangenen Ausstellungen...

...alles wird sichtbar...

…genau. Beim Eintreten in den Raum wird man zuerst mit einer Verwirrung konfrontiert. Man denk sich, der Raum sei leer, abgesehen von den Besucher*innen. Wir trafen sogar noch eine Führung an.

Gut, ich kam genau in einem „Glitch Moment“ in den Raum herein.

Anri Sala. Day Still Night Again, 2021. Installationsansicht 2. Obergeschoss Kunsthaus Bregenz, 2021
Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz

Das war bei mir anders, der Effekt findet ja nicht gleichzeitig auf allen Wänden statt, er wandert. Aber der erste Moment, in dem die Wand in unscharf wird, ist stark irritierend.

Total. Wie gesagt, bei mir trat der Effekt exakt in dem Moment ein, als ich von der Treppe um die Ecke kam.

Ah! Ich sah erstmal gar nichts und war verblüfft über den scheinbar leeren Raum.

Also man wird erstmal vor den Kopf gestoßen und fragt sich, was mit der eigenen Optik passiert. Im zweiten Moment erfasst man die Verdoppelung: Projektionen auf den Wänden von Fotografien derselben Wände. Ich weiss nicht wie das für andere Besucher*innen ist. Wir schauten ja gleich auf den technischen Aspekt: Wie sind die Projektoren aufgehängt, welche Typen werden eingesetzt, etc. Manchmal wäre es schön, magische Momente wie diese erfahren zu dürfen, ohne zu wissen wie sie funktionieren.

Dem Ganzen noch mehr ausgeliefert sein – vielleicht gerade dadurch müssen wir sofort technisch nachvollziehen wie Täuschungseffekte zustande kommen. Aber der Moment des Scharfstellens, diese Arbeit, die das Auge tagtäglich leistet, also diese wesentliche Funktion etwas von der Unschärfe in die Schärfe zu holen – vorausgesetzt man hat keine Sehschwäche –  ist einem normalerweise gar nicht bewusst. Sobald sich aber der Schärfebereich verkleinert, weiss man, wie das ist.

Denkst du, durch Salas Arbeit wird einem die Funktion des Auges viel eher als aktive Entscheidung der Konzentration auf einen Fokuspunkt bewusst?

Seit ich kurzsichtig bin, denke ich darüber nach. Es gibt zwar auch für Normalsichtige immer einen Rest an Unschärfe, durch grosse Distanzen zum Objekt beispielsweise, wodurch sich Details der klaren Sicht entziehen. Auch durch Lufttrübungen wird etwas unschärfer oder kontrastarmer, aber das Scharfstellen-Wollen und nicht können ist ein Moment, den ich vorher nicht kannte. Das führt zu einem Kompetenzverlust, was schmerzt, weil man etwas nicht mehr kann. In dieser Hinsicht hat mich dieser Raum betroffen. Denn, wenn das Ganze im Außen simuliert wird ist man diesem Phänomen noch mehr ausgeliefert – das Auge ist dann vollkommen machtlos. Man kann die Wahrnehmung nicht mehr durch das Auge regulieren. Man kann nicht mehr Ordnen. Eigentlich handelt es sich beim Fokussieren um eine Ordnungsfunktion. Wird diese gestört, dann ist das bedrohlich.

Da stimme ich dir zu. Als ich dir im Raum sagte, ich empfände eine Traurigkeit, bezog sie sich vielleicht auf diese Bedrohung. Denn dieser Moment, den du eben durch die Optik beschrieben hast, habe ich auf einer metaphysischen Ebene interpretiert. Als würde der Künstler mich zwingen hinzuschauen, um mir zu sagen, schau, auch diese harte, tragende Betonwand ist nicht real. Jedenfalls kannst du dir auch darüber nicht sicher sein. Selbst wenn man hingeht und sie anfässt, der Zweifel wird immer bestehen bleiben, dass all das nicht real ist und man kann sich nicht dagegen wehren.

Scharfstellen heißt eigentlich auch, sich einer Sache detailliert zuzuwenden. Wenn sich mir etwas, dem ich mich zuwende, visuell entzieht, dann bedeutet das für mich Machtlosigkeit.

Ein Verlust.

Ja, ein Verlust. Man wird von einer äusseren Instanz dirigiert. Wobei man ja sagen könnte, Kunst lenke den Blick immer ein Stück weit, aber nicht zwingend auf dieser organischen Ebene, auf der das Auge funktioniert. Kunstwerke spielen oft mit Blicktraditionen und Bedeutungshierarchien. Im Film ist der Blick explizit ein gelenkter, aber meistens sind wir uns dessen gar nicht bewusst und grundsätzlich setzen wir uns diesem immersiven Medium gerne aus.

Anri Sala. Day Still Night Again, 2021. Installationsansicht 2. Obergeschoss Kunsthaus Bregenz, 2021
Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz

Man begibt sich in die Hände eines Regisseurs oder Kameramannes.

Und der Schnitt wird beim Kinofilm meist so vollzogen, dass man dem Handlungsstrang folgen, ihn als ungebrochen wahrnehmen kann. Solche Filme bezwecken den Besucher bei Laune zu halten, oder zumindest über die gesamte Filmlänge als optisches Faszinosum bestehen zu bleiben. Sala im Gegenteil sucht den Bruch im vertrauten Sehkontinuum.

Dies wird unterstützt dadurch, dass es in diesem Raum keine Sitzmöglichkeiten gibt. Sobald man das Stockwerk betritt ist man innerhalb der Arbeit, man kann sich nicht wie in einem Film etwa durch Wegschauen distanzieren, sondern, befindet sich mitten drin, genauso wie alle anderen, die sich mit einem im Ausstellungsraum aufhalten. Die anderen Besucher*innen werden dann zu Referenzpunkten, mit denen man die Wände, die Distanzen und die Unschärfe messen kann.

Guter Punkt. Die Leute, welche im Raum stehen, verstärken den Effekt. (lacht) Also, wenn die Leute dann auch noch unscharf würden, dann müsste man sich tatsächlich fragen, ob mit einem noch alles in Ordnung ist. (lachen beide laut)

Wobei das technisch nicht mal unmöglich wäre, die Leute könnten getrackt werden. Und ein Scan über die Leute projiziert. Dies würde aber gegen den Minimalismus sprechen, den wir an Salas Arbeit so mögen. Aber reden wir über den Ton in diesem Raum: Er ging zwar nicht unter, aber man nahm ihn nicht so aktiv wahr.

Ich habe jetzt auch keine klaren Erinnerungen mehr an den Ton. Ich würde sagen, es war eine Sequenz, die wiederholt wurde. Es gab kein Zusteuern auf einen Höhepunkt oder ein Abflachen der Audiospur. Oder war es ein Grollen?

Sala nennt es perkussiv – eine weitere Drumskin. Es ist für mich erschreckend, dass ich nicht  sagen kann wie stark man geleitet, oder sogar manipuliert wird vom Sound, was ich als grosse Stärke der Ausstellung wahrnehme.

Wir haben darüber gesprochen, dass das Akustische auf der strukturellen Ebene zu analysieren besondere Kenntnisse voraussetzt. Auch hier wird es Erfahrungswerte und darauf aufbauend bestimmte Kompositionsregeln geben, mit denen relativ verlässlich Gefühlsregungen erzielt werden können. Ich denke, die durchschnittliche Museumsbesucher*in ist im Sehen geschulter als im Hören. Ich zähle mich auch dazu. Auch ich setze mich akustischen Beiträgen gerne aus, sie haben oft etwas Überwältigendes, gerade weil ich sie nicht verstehe. Wir sprachen ja bereits davon, dass bei der Analyse einer Arbeit auch etwas von ihrer Wirkungsdimension verloren gehen kann.

Das weiss ich nicht und würde gerne wissen, ob man sich dieser Wirkungsdimension durch Analyse entziehen kann. Das bringt mich zurück auf die Arbeit mit der Schnecke: Kann man den Hörsinn ausschalten oder ist man wie die Schnecke, mit der ganzen Haut den Schallwellen ausgeliefert?

Aus energetischer Perspektive ist der Mensch wohl durchgängig verschiedensten Einflüssen ausgeliefert und somit ein Resonanzkörper oder eine Membran die ständig mitschwingt...

...was sich als Hauptmotiv durch die Ausstellung zieht.

...da freue ich mich umso mehr eine Schnecke anzutreffen, ein Allerweltstier, das jedem*r aus der Kindheit bekannt ist...

...und sie ist auch ein Wesen, dass man mit dem All verbindet. Ein außerirdisches Glibberwesen, die Unförmigkeit, die einen zweifeln lässt, ob es sich um ein einheitliches Weichteil oder ein formstabiles Wesen handelt. Aber nochmal zurück zu deiner Aussage über die Rezeption des Tons über die Haut der Schnecke. Das habe ich mir sofort bildlich vorgestellt. Wie die Soundwellen auf ihre Haut treffen und sie gegengleich mit der Haut ihre eigenen Wellen formt. Dieses Sich-Zusammen-Ziehen und Ausdehnen. Wenn wir annehmen, dass wir nicht entscheiden können, was wir wahrnehmen und was nicht, bietet die Schnecke eine Lösung an, da sie sich selbst wellenförmig bewegt.

...das müsste man genauer beobachten. Vielleicht leitet sie die Wellen einfach weiter? Oder es gibt erstmal eine Interferenz ,die dann langsam ausgeglichen wird.

Es wäre auf jeden Fall spannend, Genaueres über das Verhalten der Fühler zu wissen. Sala meint im Vermittlungsvideo, dass die Schnecke mit den Fühlern auf die Tonhöhe reagiere.

Beim Schauen des Videos ist mir das nicht aufgefallen. Ich habe lediglich festgestellt, dass der Bratschist auf die Reflexe der Schnecke reagierte, konnte aber keine Regelmäßigkeit feststellen. Am Ende war ich stolz auf die Schnecke (lacht). Sie hat etwas Unverfrorenes. Sie gab sich wie eine Forscherin, verhielt sich als wäre sie auf einer Expedition, blieb stets neugierig gegenüber dem, was um sie herum passiert. Das Video führt eine eigenartige Mensch-Tier-Beziehung vor. Ich versetzte mich in die Position des Tieres und dachte aus seiner Perspektive: "Was macht der denn da? Um was soll es hier bitteschön gehen?
Was man noch näher ansehen müsste: Die Strawinsky-Interpretation erfolgt scheinbar lediglich auf zwei Saiten. Mir kam der Klang enorm vielfältig vor, aber vielleicht lag das an den vielen Sound-Quellen, die einen orchestralen Eindruck erzeugten.

Das passiert durch die Auffächerung in 270°.

Das Video gewährt im Hintergrund des Bratschisten Einsicht in ein eher kleines Musikzimmer, lässt einen möglicherweise holzgetäferten Raum vermuten.

Das dachte ich mir auch. Dass man nichts Genaueres über den Drehort erfährt, liegt auch an der Einstellgrösse.

...ja, genau, wir sprachen ja bereits darüber, dass sich der ganze Film im Close Up Bereich abspielt.

Mich störte der Bratschist als Individuum. Ich hätte mir gewünscht, dass der Musiker anonym, d.h. als Figur abstrakter geblieben wäre.

Wenn man weiß, dass es sich nicht um den Künstler handelt, drängt sich die Frage nach seiner Identität sofort auf. Scheinbar handelt es sich um einen bekannten französischen Musiker: Gérard Caussé.

Du hast die Führung mitgehört?

In Bruchstücken. Führungen durch Videoarbeiten sind toll. Die Teilnehmenden tragen Kopfhörer, damit man das Gesprochene gut hört. Aber für andere Gäste, die sich ohne Kopfhörer mit im Ausstellungsraum aufhalten, sind die doch eher lauten und gestenreichen Darbietungen der Vermittlungspersonen eher unangenehm.

Haben das Führungen nicht so an sich?

Na ja, man könnte die Führung genauso gut pre-recordern und die Leute hören es sich zum gegebenen Zeitpunkt an. Der Vermittler im KUB dagegen stand wie ein Moderator vor der Leinwand im Raum. Es wirkte wie eine Performance. Während die Zuschauer*innen bedächtig zuhörten. Ich versuchte seinen Vortrag in der Arbeit Time no Longer mitzubekommen. Die Aufnahmen referieren auf den Challenger Flug ins All im Jahr 1986.

Anri Sala. Time No Longer, 2021. Installationsansicht 3. Obergeschoss Kunsthaus Bregenz, 2021
Foto: Markus Tretter. Courtesy of the artist und Marian Goodman Gallery. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz

Einer der ersten Raumfahrtmissionen. Ronald McNair, ein afroamerikanische Astronaut und Saxophonist, wäre der erste Mensch gewesen, der in der Schwerelosigkeit ein Musikstück aufnimmt.
Was ich eigenartig fand war dieser Drehmoment. Der Plattenspieler dreht sich, das Vinyl dreht sich, aber ich konnte nicht erkennen, ob die Nadel das Vinyl berührt und habe mich dann entschieden, zu glauben, dass der Sound nachträglich über die Filmaufnahme gelegt worden sei. Das wiederum führt automatisch zur Frage, was das für ein Sound ist.

Ich hatte das Gefühl die Nadel berühre die Schallplatte, verliere den Kontakt aber immer wieder. Im Vermittlungsvideo erklärt Sala den Zusammenhang zwischen der Challengermission, dem verunglückten Saxophonisten und des in Time no Longer verwendeten Musikstücks Quartett für das Ende der Zeit, das der Komponisten Oliver Messiaens im 2. Weltkrieg während seines Aufenthalts in einem deutschen Kriegsgefangenenlager schrieb. Sala nimmt also Bezug auf verschiedene geschichtliche Events, in denen Musik mit Desaster und Kontrollverlust in enger Verbindung anzutreffen sind.

Passend dazu empfand ich die Gegenüberstellung von realen und dreidimensional gerenderten Bildern als sehr schön. Die Hyperrealität auf der metallischen Oberfläche und der Fokuspunkt, der unverändert auf der Nadel des sich drehenden Plattenspielers fokussiert blieb. Das wäre filmtechnisch sehr schwierig umzusetzen, man spürt…

...dass es sich nicht um die Filmaufnahme eines Plattenspielers, sondern um eine Simulation handelt.

...und, dass in diesem Fall auch die Schwerkraft simuliert wird.

...es wird also nichts dokumentiert...

...es ist vielmehr eine Idee...

...ja. Ich finde, Sala betont das Fiktionale, das Erzählerische. Seine Montage von Renderings des sich in Rotation befindlichen Plattenspielers und Satellitenaufnahmen von der Erde ist sehr gut gelungen. Es wird der Eindruck erzeugt, der Tonarm des Plattenspielers würde nicht nur die Schallplatte, sondern ebenfalls die gekrümmte Erdoberfläche abtasten und die Rotation der Erde um die eigene Achse bezieht sich natürlich auf die des Plattentellers. Dieser Vergleich erinnert auch an vor-antike Vorstellungen der Erde als Scheibe.Die verschiedenen Rotationsachsen ergeben auch eine spannende Komposition im Ausstellungsraum. Das untere Ende der Leinwand wird zum Horizont, hinter dem der Plattenspieler versinkt und wieder aufgeht. Die Spiegelung des Videos auf dem glatten Ausstellungsboden verstärkt diese Optik.

Wieder erfuhr ich ein Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit – ich vermute auch aufgrund des Overview Effekts. Diese Stimmung wird allein durch die Rotationen und die Sound-Ebene erschaffen. Man identifiziert sich mit der Einsamkeit ohne je in die Situation gekommen zu sein, die Erde von außerhalb gesehen zu haben.

Wir kennen diese Perspektive von anderen filmischen und fotografischen Dokumentationen. Seit Ende der 60er Jahren haben wir den Earthrise in unser Bild, in unsere Vorstellung von der Erde integriert.

Die Situation erinnert mich an eine Szene in Tarkowsky’s Solaris, an den Ausblick aus dem Fenster des Raumschiffs, wo die Erde in Wellen zu explodieren scheint und somit an das Gefühl einer stetigen Ungewissheit gegenüber der Existenz des Planeten und einem selbst.

Was wir noch nicht angesprochen haben – Salas Spiel mit der Tiefenschärfe. Er spielt mit Gegenlichtsituationen und Unschärfezonen.

Es war, als würde der Ausstellungsraum durch die Blitzlichter beben. Dies wirkte auf mich sehr theatralisch. Ich fragte mich, ob man mit einer solchen „lauten“ Geste nicht den Fokus aufs Wesentliche zerstört.

Ganz allgemein beobachte ich, dass, wenn in Filmen mit Unschärfe operiert wird, sich eine Intimität herstellt. Unschärfe entsteht für mich auch im Fall des Geblendet-werdens. Auch dieser Moment verweist auf das Auge als empfängliches und empfindliches Organ. Die Unschärfe rückt das Abgebildete ganz nahe ans Auge.

Ich habe das als sehr filmisch empfunden, was aber stark mit meinem Hintergrund im 3d Rendering zu tun hat, da heisst es oft: "Bring noch etwas Depth of Field rein, dann wirkt es sofort ästhetischer, bekannter und somit konsumierbarer!".

Man denk sofort wieder an eine analoge Kamera und damit an die physische Nähe des Apparates zum Objekt.

Ja und diese Vorstellung macht die Situation scheinbar real.

Genau und dadurch sinnlicher. Die Unschärfe provoziert ein sehr körpernahes Erleben. Gleichzeitig ist die dargestellte Situation, also der rotierende Plattenspieler in dieser Weltraumstation, unglaublich technoid und auch etwas abweisend.

Darüber hinaus bietet der Film eine nostalgische Referenz auf ein Objekt, den Plattenspieler, der im herkömmlichen Musikgenuss ausgedient hat.

Stimmt. Dieser nostalgische Moment trägt wohl zusätzlich auf einer kulturgeschichtlichen Ebene zur Nähe, vielleicht sogar Zuneigung zum Objekt bei.

Die Ausstellung läuft aktuell bis zum 10.10.2021 im KUB.

https://www.kunsthaus-bregenz.at/ausstellungen/aktuelle-ausstellung/anri-sala/

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